(Korrespondenz mit Martin Lindner, Auszüge)
lieber martin
ich habe ja noch versprochen, dass ich auf dem laufenden halten wollte. herzlichen dank noch mal für den tb-text, den ich mal diagonal, mal intensiver gelesen habe und von dem ich (v.a. in der form der definition) profitiere …
in meinem text (Notula Nova Notatpoetik und (Ko(n))Textproduktion im literarischen Weblog /AT*), der noch sehr alpha ist, in dem noch einige redundanzen, formale (aber auch sprachliche und inhaltliche) ungereimtheiten vorhanden sind, kommt diese auch in einer fn zu wort. vielleicht magst dus ja gelegentlich mal überfliegen … (freu mich über offenes feedback) … wie gesagt: sehr alpha. aber es wird weiter dran gefeilt …
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hallo hartmut,
danke, superinteressant. im detail muss ich erst noch nachdenken, wo da mein eigener zugang liegt.
spontan: was ich in der habil zum mystifizierenden neomodernistischen schlüsselkonzept der écriture/Schreiben schreibe (Blanchot war mein frühester gewährsmann), ist doch ziemlich deckungsgleich mit “Aufzeichnungen”? bzw. wo beginnen die Aufzeichnungen etwas spezielles, eigenes zu werden?
neugierig, weil es hier nicht daraus hervorgeht: hast du mit meinem (ja recht sparsamen) konzept der “diaristischen aufzeichnung” etwas anfangen können, oder genau nicht? und vermutlich hast du dir eh gerade die abschnitte zu handke, brinkmann und becker schon angeschaut, in denen vermutlich am meisten konkretes zu finden ist. die früheren (gerade auch canetti, oder hohl, jünger natürlich) kokettieren ja eher mit dem fragment-charakter.
bin gespannt auf weiteres!
herzlichen gruß
martin—
lieber martin
ganz herzlichen dank für die anregungen!
mit blanchot habe ich mich derzeit – muss ich gestehen – noch nicht beschäftigt. écriture-konzepte kenne ich vor allem von barthes. Aber ich vermute auch, dass écriture (auch: als “haltung“) und aufzeichnung (als dessen ergebnis) sehr viel miteinander zu tun haben. wo das eigene, oder auch: so etwas wie eine spezifische poetik anfängt, denke ich, kann sich aus unterschiedlichsten variablen bedingen. so etwas wie ein “homogener stil”, der fokus auf einen bestimmten beobachtungsausschnitt, das, was zur kenntnis genommen wird UND eben genau auch das, was nicht, bestimmte collagetechniken … usw.
handke und brinkmann sind in deinem text sehr vertreten. über die bin ich natürlich auch gestolpert in den sekundärliteraturen (fn1) … deine tb-definition war mir sehr hilfreich, vor allem auch als differenz-konzept zu einem aufzeichnungs-ansatz, den ich irgendwie auszufüllen und zu beschreiben versuche.
die notula stellen ja den “diaristischen pakt” (sehr guter begriff, finde ich) nicht so sehr in den vordergrund. auch nicht die datierung (obwohl zwangsläufig für die technische infrastruktur unabdingbar … aber sicher ist die konkrete datierung nicht so wichtig, schon aber der zeitpfeil (wg. entwicklung wiederaufgegriffener gedanken) … im diaristischen pakt, so wie ichs verstanden habe, gibt es eine unausgesprochene vereinbarung zwischen autor(schaft) und leser, was aber gewissermassen (respektierte) autorschaft schon voraussetzt (?). bei den notula (dadurch, dass darin auch stark mit zitaten und (ausgewiesenem) fremdtext gearbeitet wird, dass sie im blog-kontext zu “schwimmen” beginnen, durch die starke heterogenität des materials (von hartem zeugs bis zu totalem nonsens), der sich dann auch noch in den kommentaren fortsetzen kann), versuche ich ja ein bisschen so etwas wie eine aufspaltung starker autorschaft.
seitens des lesenden wird so vielleicht nicht mehr mit einem “über“autor paktiert, sondern mit einer etwas anderen konstruktion. einer spielerischen und leichten abspaltung … eher: einer funktion zur selbstaktivierung … hinzu kommen noch ein paar oulipo-zwanghaftigkeiten zur textstrukturierung, die ebenfalls konträr zu klassischer autorschaft stehen … theoretisch also, nichts neues, praktisch aber (konsequent durchgezogen und in diesem medialen umfeld) im literarischen feld ja noch nicht allzu lange machbar …
(für mich persönlich ist das ja auch ein bisschen eine arbeit am literaturbegriff. was markt und rezeption angeht, werden narrativ-didaktische literaturen (habe ich das gefühl) immer stärker und präsenter. und mit ihnen das stapelbuch in buchstapeln von grossverteilern. “außertextuelle Wirklichkeiten”, literatur, die ganz konkret bewusstsein abbilden will (oder aus sicht der lesenden: “die Konfrontation mit einem fremden Bewusstsein” (ermöglichen), Kronauer) … solche dinge werden – ausser in speziellen bloggerzirkeln oder literaturzeitschriften – schon gar nicht mehr wahrgenommen. für mich sind solche sachen aber essentiell …
herzlich
hartmut—
lieber hartmut,
barthes hat anscheinend massiv blanchot gelesen (mein damaliger eindruck/kenntnisstand). ich habe ein blanchot-buch gelesen (in der biblio), und es war sehr interessant.
diaristische und nicht-diaristische aufzeichnungen: damit hatte ich es mehrmals zu tun. es geht letztlich darum, ob die texte, die die schreibbewegung (auch: montage usw.) spiegeln, an einen konkreten akt gebunden sind oder nicht. also: ob sie eine aufladung erfahren durch die wie immer indirekt präsente wirklichkeit-als-kontext-des-schreibakts. beziehungsweise durch die gelebte existenz. das kann, muss aber nicht sein.
Frischs Tagebuch II wäre ein (verblüffend guter) artistischer text, der diaristik als eine sehr allgemeine folie nimmt, um darin durchaus kunstvolle prosastücke eben als “aufzeichnungen” einzubetten. und im TB I kann man studieren, wie erzählversuche sich verändern, wenn sie als “skizze” präsentiert werden (anscheinend auf R. Walser sich beziehend). von den neueren, falls du es noch nicht gelesen hast, sind die zwei abschnitte zu Jürgen Becker relevant. natürlich dann später auch Botho Strauß (der bei mir nur noch den rand bildet).
ich persönlich fand die (wie verdeckt auch immer) diaristischen texte am spannendsten, weil spannungsvollsten. denn die autoren, die sich vorschnell in die “brillante” reflexion/abstraktion bzw. eben “kunst” verabschieden, haben mich immer genervt. Hartmut Lange fällt mir da ein, als krasser fall. immer da, wo etwas “Aufzeichnungen” genannt wurde, schwingt in der regel schon immer so ein unangenehmer hautgout von “artistik” & Tiefen-Existenziellen-Einsichten-im-Hohen-Ton mit. (wobei ich das ausstellen des künstlichen im gegenteil sehr begrüße.)
für meinen geschmack gut waren immer die, die sowohl bewusstsein/schrift sehr bewusst reflektieren, als auch dabei immer die schmerzhafte spannung zum schrift-gegenteil, also dem durcheinander des trivialen-aber-konkreten dahinlebens, bewahren. Die das absurde der verschriftung eingestehen und zum thema machen.
usw.
herzlich
—
ein schreiben, das auch “die schmerzhafte spannung” zum schrift-gegenteil speichert, … genau das finde ich auch sehr reizvoll …(bei meiner beschäftigung mit blogs und aufzeichnungsliteratur sowie der erstellung von alben / heften (cahiers) ist mir ja auch mal francis ponge untergekommen (LOpinion changée quant aux fleurs) … für mich ist der text ja d a s blog avant la lettre …)
lieber martin, du hast mir da ja noch einige seitenflügel aufgetan (frisch etc.), die ich unbedingt mal noch in dieser hinsicht besichtigen muss …
ich melde mich wieder
merci & herzlich
hartmut
*) weiter in Arbeit …