Spekulationen zum Verständnis einer Funktion als Figur
(Essay, Beta)
2 Der Troll als Funktion
2.2 Der subjektive Troll
“Aufgrund der Vorfälle in den vergangenen vier Wochen sehen wir uns leider gezwungen, den Antiquar Peter Mulzer aus unserem Internet-Forum boersenblatt.net auszuschließen.” (14)
“boersenblatt.net setzt Foren-Troll vor die Tür. Mit einer ausführlichen und interessant zu lesenden Begründung gibt boersenblatt.net bekannt, dass einer der dort »Diskutierenden« dies künftig nicht weiter tun darf” (15)
In diesem Beispiel wird ein der Redaktion, Teilen der Leserschaft – namentlich Bekannter als Troll bezeichnet. Die Bekanntheit der Identität des Textverursachers leitet sich also aus der Innenperspektive der Forenbetreiber und womöglich der aufmerksamen, treuen Leserschaft ab. Virtuelle und tatsächliche Identität der Urheberschaft ist also für Teile der Diskursteilnehmerschaft nachvollziehbar. Und dennoch wird diese Textform und dessen Autor als Troll bezeichnet. Entspricht dies noch einem Trollbegriff mit dem Merkmal scheinbarer Identitätslosigkeit?
Was ein Troll(text) ist und was nicht, ist, wie dieses Beispiel zeigt, schwer objektivierbar. Er wird sehr häufig als Kampfvokabel gebraucht, um eine dem eigenen Verständnis widerstrebende Texteinlassung ohne nachhaltigen Identitätsausweis zu diskreditieren, abzuwerten oder auszublenden. Der Troll wird damit zum diskursiven Begriff. Ohne den Trollbegriff ist allerdings auch schwer auszukommen in der Netzkultur. Folgende Präzisierung ist also zu unternehmen, um den Begriff noch als einigermassen brauchbar zu definieren. Was ein Troll(text) sein könnte oder nicht, ist schlechthin nur aus der Sicht eines einzelnen Lesenden, der eine mögliche Identität nicht kennt oder vermeintlich kennt, und für sich selbst zu entscheiden. Von einem Individuum wird ein Text der Trolltextsorte zugerechnet, und dieser ist also nur aus Sicht eines jeweils Lesenden eine diskursoponierende Texteinlassung in scheinbarer Identitätslosigkeit. Jede intersubjektive Traktierung oder Affizierung eines Textes bzw. seiner Herkunft mit dieser Zuordnung löschte in genau diesem Moment die Klassifizierung aus und macht den Text zu etwas, was er jenseits seiner Funktion nicht wäre: zu einem Gegenstand von Interessen. Den Troll gibt es nur als subjektiven Troll. Seine Funktion und Lektüre befindet sich stets im Zustand der Vorläufigkeit.
Diese ist damit auch zwangsläufig im Kontext von Literatur und literarischen Texten auszumachen. Und zuallererst im Falle einer Entscheidung für die Lektüre eines Textes als Literatur.
Natürlich existieren auch literarische Trolle nur, wenn man sie lässt. Eine Vielzahl technischer, editorischer, redaktioneller Massnahmen können dafür sorgen, dass diese genug Nahrung bekommen oder eben nicht. Auch unter diesen Vorzeichen gilt Dont feed the Troll als das wirksamste Verhalten, die Attraktivität von Troll(text)existenzen gering zu halten, neben graduell unterschiedlichen Formen des Umgangs mit ihnen, nämlich diese zu
löschen / bannen / verwarnen / auszusperren
ignorieren / akzeptieren
integrieren / manipulieren / verwenden
oder schlicht: mit ihnen zu spielen.
Ersteres wäre sicher die naheliegende Massnahme, ein wie auch immer gedachtes, entworfenes, offenes Werk rein zu halten. Es würde damit auch eine Werkform angestrebt werden, die einer stark autorschaftlich geprägten Vision von Literarizität zuspräche. Dies muss nicht bei allen Ansätzen so sein.
Wenn man sich nun dazu entschlösse, diesen Texttypus mit ins Werk zu integrieren, diesen Texttypus als Bestandteil eines literarischen Spiels zu betrachten, so bewegte sich – je nach Wahl des Umgangs mit literarischen Trollen das Werk jeweils in die Richtung eines anderen Typus bzw. einer anderen Gattung (16): Erste, technische Entscheidungen bei den Voreinstellungen legen gewissermassen schon Massstäbe fest, mit Konsequenzen für den Autorschaftsbegriff (und in dieser Folge Werk/Gattung bspw. in einem Literarischen Weblog):
Je nach Offenheit des Werkes für solche Einlassungen, eventuell sogar mit der Möglichkeit (nachgerader) produktiver Manipulation, hat dies Vor- bzw. Nachteile für das Werk / Blog, bzw. kann dessen Charakter nachhaltig verändern:
Erzeugung von Vielstimmigkeit, Ausdifferenzierung von Diskurs, Simulation von Mob (Stichwort shit-storm), rasender anonyme Masse (vgl. Kraus, letzten Tage der Menschheit … als analoge, klassisch-moderne Vorlage), polit. / ästhet. Positionierung etc.
Autorschaftliche Lenkung von Diskursverläufen, Multiplikation und Darstellung von Dialektik
Sprachliche Diversifikation. Spiel mit Soziolekten, Dialekten …
Suggestion von Rezeptivität bzw. Gelesenheit (Wichtigkeit, Relevanz) von Text. Pageviews. Commentcount. Ältere Texte werden von Trollen wieder hervorgeholt, aktualisiert.
Choreographierter Einsatz von Trollen als Personal. Konstruierte, reflektierte Anlage von Trollfiguren / -charakteren
Der Troll(text) als diskursives Subgenre muss in spezifischen Formen im Netz als immer schon vorhanden angesehen werden, denn es wird vom Lesenden festgelegt, ob er einen Text nun dieser Sorte zurechnen will. Dies ist bei einigen Texten wahrscheinlicher als bei anderen. Und dafür gibt es verschiedene Gründe, wie noch in Kapitel 3-5 zu zeigen ist. Die unterschiedliche Lesbarkeit und Klassifizierbarkeit von Troll(text) und Text als Troll(text), die diese Texte einerseits mit dem Kontext des Werkes in Beziehung setzen und beeinflussen, andererseits, diese selbst als Personal einer chorischen Fantasie ohne (zumindest festgelegten) Plot betrachten, öffnet die Möglichkeiten der Handhabung von scheinbar nichterwünschtem Text und wendet diese in der Verantwortung subjektiver Lektüre durchaus in neuere Wege der Rezeption und Produktion von Text.
Next: 3 Den Troll lesen 1: Die Bedeutung der Funktion
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14 In eigener Sache: Ausschluss Peter Mulzer. (Q, Stand: 18.08.2010)
15 boersenblatt.net setzt Foren-Troll vor die Tür. (Q, Stand: 18.08.2010)
16 Der Troll wird, je nach Umfeld, bspw. zur Romanfigur, wie oben angedeutet. AN Herbst, (Das Weblog als Dichtung)