(Eins zu fünf)
Geschrei in der Carrer de Sant Pau. Ich habe vergessen die Balkontüre zu schliessen. Wälze mich aus dem Bett, wanke, traumlose Trunkenheit, durch den schattigen Raum hinüber zur Türe. Schon halb elf, zeigt ein Wecker. Angenehme Temperatur. Unter dem Balkon ein Streit. Ein verlebter Junge schüttelt ein Mädchen, seine Freundin, sie stösst ihn, kickt ihn mit Füssen. Eine Dose fällt zu Boden. Sie umarmen sich kurz, dann erneut: Handgemenge, Weinen. Eine Drogengeschichte den Gesichtern nach. Mir war am Vortag schon aufgefallen, dass diese Strasse direkt ins Rotlicht- und Junkiemilieu der Stadt führt, sie paradoxerweise, nein, konsequenterweise in der Luftlinie mit der Flaniermeile verband. Ich beobachte die beiden, beobachte aus dem zweiten Stock, wie Passanten die beiden beobachten, aus nächster Distanz, wie einige noch eine Steigerung der Heftigkeit ihres Streits, ihres Schlagabtauschs abwarten, um dann vielleicht doch noch einzugreifen. Aber auch: viele Neugierige. Ich ziehe mich zurück und schliesse die Türe.
Der letzte Gedanke, nach dem letzten Geräusch, gestern Nacht: Dass es hier nichts zu tun gibt. Dass ich mich heute nicht mehr bei Fernando melden würde. Dass er mich nicht nur langweilte, sondern sogar aufregte. Er würde sich sicher wundern, nicht von mir angerufen zu werden. Er konnte mich aber selbst nicht erreichen, wenn mein Handy ausgeschaltet war, so meine Überlegung. Ich beruhigte mich und schaltete das Handy ab. Wenn ich nur rechtzeitig das Hotel verliess, ein anderes nähme, oder gleich abreiste, so ungefähr der Stand der Überlegungen gestern Nacht.
Was für mich in dieser Stadt noch zu tun bleibt, scheint jetzt noch klarer, als vor meiner Abfahrt: Nichts. Ein möglicher Ort. Nun, ehemaliger Möglichkeitsort, Schauplatz, an dem es nichts mehr zu sehen gibt, soviel steht für mich jetzt fest. Nach dieser Einsicht müssen solche Plätze sofort verlassen werden. Mein Geldbeutel? Ich suche im Zimmer, im Bad, unter dem Bett danach. Er ist nicht zu finden. Er wurde mir entwendet, und mir fällt wieder das Gerangel in der Bar ein. Ich hatte glücklicherweise Ausweise und Ticket nicht bei mir, und so hält sich der Verlust in Grenzen mein erster Gedanke. Nein, ich war pleite! Mein Zweiter. Auf dem Konto kaum einen Cent und nun kein Bargeld mehr. Erleichterung aber auch. Eine Entscheidung beflügelt sich. Ich kann nun diesen Ort verlassen, ohne an ihm Ersatzhandlungen vorzunehmen. Aber meine Rückfahrt ist laut Ticket erst in drei Tagen.
Ich habe gepackt und verlasse das Zimmer. Der Lift ist heute morgen ein anderer Raum. Putzmittelgeruch, gebrauchte Bettwäsche in einer Ecke am Boden. Ich hatte die Nacht schon im voraus bezahlt und lege kommentarlos den Zimmerschlüssel auf die Rezeptionstheke – ein mir noch unbekannter Rezeptionist ist gerade mit neuer Kundschaft beschäftigt. Ein paar Meter sind es bis zur U-Bahnstation Liceu. Wärme, fast Schwüle, steigt auf und ich verlangsame mein Tempo. Ich bemerke, wie ich mich immer noch unsicher umschaue, aus Angst, ihm nicht vielleicht doch über den Weg zu laufen. Vielleicht will er mich ja abholen, oder hatte sich schon im Hotel erkundigt, aber nein, ich hatte ihm ja meine Adresse verschwiegen. Sechs Stationen sind es von hier bis zum Sants Estació. Ich stelle mir vor, wie ich an einem Schalter auf Englisch verhandle. Warum ich jetzt schon zurückfahren müsste. Ein Trauerfall. Eine verstorbene Verwandte, besser: mein Vater wäre verunglückt, ob man nicht vielleicht eine Ausnahme machen könnte. Wie lange habe ich nicht mehr an meinen Vater gedacht? Ich würde auch eine andere Verbindung nehmen. Wenn noch etwas frei wäre. Die Türen schliessen sich. Noch sechs Stationen.
In so einem Fall wäre es kein Problem. Heute Abend um dieselbe Zeit. Es seien noch Plätze frei. Dienstags wäre nie ausgebucht. Sie würde das für mich erledigen. Nein, es täte ihr sehr leid. Das könne vorkommen. Ich könne ja nichts dafür. In solchen Fällen sei man kulant. Mein Ausweis. Mein Fahrschein. Hier sei mein neues Ticket. In sieben Stunden, also. Ich müsste mir aber schon noch etwas die Zeit vertreiben. Thank you very much. I am so grateful.
Ein Buch, eine dünne Tageszeitung sind bald zerlesen. Das Kreuzworträtsel, fast gelöst, in der Nische. Brosamen auf dem Boden zwischen den Schuhen und dem Rucksack. Ich hatte mich nicht aus der Halle bewegt. Ich starre in Buchstaben hinein, gebe ihnen neue Reihenfolgen und Bedeutungen, verfolge Reisende, dann Ziffern an der Wand, dort eine Abfahrtstafel. Fernando ist eine Geschichte. Am Rande. Roman und sie eine andere. Aber nicht hier, nicht in dieser Halle, nicht auf jenem Gleis, das gerade ausgeschrieben wird, zu dem ich mich jetzt bewege und nicht zurückschaue. Hier gibt es keine Geschichte mehr. Hier ist Geschichte. Nur eine Rolltreppe hinunter, und dort der Wagen. Die 32, wie gehabt. Wie fast gehabt, die Aufstellung der Waggons vor der Abfahrt. Ich bin nun in ihrem Wagen gelandet. Die Wahrscheinlichkeit auch noch ihr ehemaliges Abteil zu beziehen liegt bei eins zu fünf.