Lesezeichen

(M41)

Ich saß in schmaler Reihe vor einer Glaswand, hinter der der aufsichtsführende Bibliothekar die Lesenden keine Sekunde aus den Augen ließ. Bei der geringsten Verfehlung kam er aus seinem Glashaus und wies den Benutzer mit Gesten zurecht. Man durfte das Buch beim Umblättern nicht zu sehr ans Lesepult pressen, man durfte es nicht aufgeschlagen zurücklassen, wenn man den Lesesaal verließ, und mußte ein schmales Kärtchen als Lesezeichen hineinstecken. Ließ jemand ein Buch eine Minute aufgeschlagen auf dem Lesepult, kam der Bibliothekar, steckte ein Kärtchen hinein und klappte es zu. Wortlos. Er sprach überhaupt nie. Weder Guten Tag noch Auf Wiedersehen. Hinter seiner Glaswand thronend, maß er die Lesenden mit strengen richterlichen Blicken. Einen englischen Kunsthistoriker, der mit Malerbuchkatalogen arbeitete, hat er stumm hinauskommandiert. Wahrscheinlich wurde er zum Direktor beordert. Was er falsch gemacht hat, weiß ich nicht.

Aus: Ute Treder, Die Alchemistin, 1993, S.11f.