Wort & Vita

(E5)

Diesen Ort zu skizzieren, der in so grosser Zahl schon skizziert worden war, in seiner Allgemeinheit, mit Worten, wie er sie besser nicht erfinden konnte und es also nur eine Frage der Aneinanderreihung und Menge dieser war, ein halbwegs korrektes Abbild, besser vielleicht: eine Ahnung zu produzieren, wohin er sich jetzt begeben wollte, dachte Benedikt, war paradoxerweise selbst ein Ort, der im Kern nur aus Wörtern bestand.

Einige Studenten standen dicht gedrängt um einen Aschenbecher herum und machten erst Anstalten den Weg durch die Arkaden freizumachen, als er seinerseits mit mehrmaligen Hinweisen auf seine Person und Absichten hinweisen musste. Dann machten sie Platz und liessen ihn stummfeixend passieren. Noch bevor er sich durch die elektromagnetische Sicherheitsanlage schleussen konnte, eilte ihm eine junge Frau mit dunkler Fliegenbrille entgegen, scherte sich nicht um das plötzlich anschwellende Piepsen und Blinken der Kontrollstelen und verliess den Vorraum hastig in Richtung Ausgang.

Der Diensthabende in der Nähe der Installation merkte wohl, dass hier gerade eine Entführung stattgefunden hatte, doch was sollte er dagegen unternehmen? Vor ihm drängelte sich eine Benutzerschlange und er war allein und schmächtig, so schmächtig, das Schulterzucken geriet ihm zu nicht mehr als einem leichten Zittern. Dann setzte er seine Arbeit fort.

Zum Katalogsaal ging es in den ersten Stock über eine spiralförmige, ausladende Steintreppe, die mit einem roten Läufer überzogen war. Noch auf der Hälfte des Weges hing ihm die Mischung aus Cafeteriagerüchen und Männertoilette nach. Eine kleine Vitrine vor dem Eingang des Saals machte auf runde Autorengeburts- und Todestage aufmerksam. Diese Woche feierte Ludwig Harig seinen achtzigsten Geburtstag. Als kleine, bibliophile Delikatesse wurde eine jüngere Publikation des Autors aufgelegt. Ein mit grünem Samtmaterial ausgestattetes Bändchen mit Fussballsonetten, in das auf der Vorderseite ein Fussballplatz hineingearbeitet war.

Etwas davon in Bann gezogen, stiess Benedikt gegen die Glastüre und fühlte sogleich Blicke auf sich gezogen, die sich aber augenblicklich wieder in Bücher oder Bildschirme versenkten. Die übermalten Holzwände schmückten noch Regale mit den Kapseln des sogenannten „Alten Katalogs“, ein papiergewordener Schnappschuss eine Bestandes zu einem bestimmten Zeitpunkt, sortiert und geordnet nach einem ihm unbekannten, dunklen System, in das er sich gar nicht erst hineindenken mochte. Gottlob, es gibt nun die virtuellen Kataloge und ein paar Geheimnisse weniger, dachte Benedikt.

An den Ausleihtresen kam es zu einer ersten, kleinen Enttäuschung.  Die Bücher, die er gestern bestellt hatte, befanden sich in einem Magazin ausserhalb der Stadt. Da musste er sich wohl vertan haben. Aber, wenn er denn noch etwas Zeit hätte: in einer Stunde würden sie mit einem Kurier angeliefert werden, informierte ihn ein Auszubildender. Benedikt kam schnell über seine Enttäuschung hinweg. Er werde einfach noch ein wenig weiter in den Katalogen stöbern, in der Zwischenzeit. Den Auszubildenden schien dies nicht besonders zu interessieren, aber er versicherte ihm, dass man ihn direkt nach dem Eintreffen der Lieferung informierte. Wo er denn sässe? Benedikt zeigte etwas unbestimmt in eine Ecke, in der es noch freie Plätze gab, dann steuerte er einen Rechercheplatz an und justierte sich einen Sessel auf seine Ergonomie zurecht.

Dabei war es gar nicht so, dass er an diesem Platz eine andere Tätigkeit ausführen wollte, als eben die des Suchens und Findens von Büchern und Texten und deren Bestellung. Er hatte nur diese kleine Idee, wie er beteuerte, die ihn bei der Durchsicht der Unterlagen, die ihn zu weiteren, ähnlichen Materialien führen sollte, die ihn also folglich erst eine Idee liefern konnte, von dem, was er suchte, wobei es noch nicht einmal gesagt war, dass er sich denn auch schnell in die ihm hier zur Verfügung stehenden Instrumente einarbeiten konnte und diese beherrschte, aber soweit war es noch gar nicht, denn er, sagte Benedikt, habe sich wie gesagt etwas in die Unterlagen verfressen und wollte nur schnell, ganz zügig also, ein paar Zeilen notieren, er hatte also nicht die Absicht, so lange … Benedikt merkte nun, dass er sich verheddert hatte. Es tue ihm also leid. Dabei, das war von ihm überhört worden, ist ihm nur die Frage gestellt worden, ob man ihm denn helfen könne.

Die Bibliothekarin beschwichtigte ihn und fragte noch einmal. Benedikt errötete. Nein, nein, das ist doch nicht nötig, ich komme schon zurecht, danke, und ja, wenn ich nicht mehr weiterkomme. wende ich mich gerne an Sie. Herzlichen Dank!

Sie sässe dort drüben, und zeigte ihm ihren Arbeitsplatz schräg durch den Raum. Dort. Einfach nur fragen. Und nichts für ungut. Dann verschwand sie wieder so plötzlich hinter seinem Rücken, wie sie aufgetaucht war.

Wie hatte er nur umhergewirbelt? Benedikt versuchte wieder Ordnung in den in Unordnung geratenen Zettelhaufen zu bringen, fand dabei Fassungen von Texten, die er noch mit Namen getitelt hatte. Walter hiess einer. Und MacFinster ein anderer. Und legte sie mit den entsprechenden Vorlagen ab. Dann zweifelte er wieder daran, ob das denn ein günstiges, das beste Verfahren war, oder ob nicht vielleicht eine alphabetische Reihung geschickter wäre, wenn sich die Seiten mehren würden. Doch im jetzigen Rohzustand der Texte schien ihm ein Miteinander der Geschichtchen mit ihren Auslösern am geeignetsten. Weitere Aufstellungs- und Anordnungsstrategien, so machte er es sich noch einmal klar, würden sich vielleicht zu gegebener Zeit schon von selbst einstellen. Und natürlich: all das musste auch noch abgetippt werden. Wäre dies einmal geschehen, vielleicht fände sich dann ja alles noch einmal anders, und doch von selbst, hoffte Benedikt.

Vielleicht war es auch die Unterschiedlichkeit all der bislang entstandenen, kleinen Formen. Keine einzige schien einer anderen zu gleichen. Das musste figurenmässig so sein, aber war das stilistisch auch angemessen? Oder die Ausschnittgrösse der „kargen Leben“: er ahnte schon jetzt, da er kaum zehn solcher Viten geschaffen hatte, das heisst: Ausschnitte von Viten, Vitenschnittchen, dass diese bestimmt zeitlich zwischen Sekundenbruchteilen und Jahren sich bewegten. War dies theoretisch noch vertretbar? War dies noch zulässig bei einer Idee, die doch mehr auf Konstruktion denn auf irgendetwas anderes beruhte. Dann wiederum, besann sich Benedikt, handelte es sich dabei ja wohl um eine Idee, die selbst noch zu Ende gedacht werden musste. Eine Idee also, die sich noch im Stadium ihres Vorvorhandenseins befand. Auch diese Vorstellung konnte Benedikt weiter beruhigen und er räkelte sich und bog sein Kreuz durch, das allmählich etwas zu schmerzen begann. Schliesslich war er der Autor und konnte diesbezüglich schalten und walten, wie er wollte: er hatte da keine Vorgaben. Er war derjenige, der diese lieferte. Als er sich wieder daran machen wollte, die komplizierte, virtuelle Mechanik des elektronischen Katalogs kennenzulernen, rief man seinen Namen aus.

Wie bitte? Das alles soll ich bestellt haben? Benedikt war peinlich berührt, wollte gleichzeitig aber nicht als unerfahren abgestempelt werden und schloss darauf gleich ein: Aha und Ach so, natürlich an. Tatsächlich: mehrere, ganze Werkreihen waren von ihm da vermerkt worden. Benedikt tat weiter so, als wäre dies alles rechtens und beabsichtigt und packte wortlos einen Teil des Stapels, so gut es ging, in seinen Rucksack, war dann aber doch sehr dankbar, dass man ihm mit einigen Taschen aushalf, in die er den Rest seiner Bestellung verstauen konnte.

Weitere Nachforschungen musste er wohl zu einem späteren Zeitpunkt ausführen, dachte er sich da und machte sich, stark beladen, auf den Weg hinaus und wieder die Treppe hinunter. Als es hinter ihm zu Piepsen begann, fragte er sich noch, ob das ein freundliches Nicken der Auskunft war, das ihn da verfolgt hatte, wie er glaubte. Oder etwa ein spöttisches?